Ende Oktober war Karen Tessel, Kuratorin des Amsterdamer
Widerstandsmuseums, in Dachau. Sie berichtet:
21. Oktober 2014
Wir essen im Hotel
Fischer zu Mittag: Jos Sinnema, Sabine Gerhardus, Andreas Kreutzkam und ich.
Jos und ich sind drei Tage in der Gedenkstätte für Recherchearbeit. Zusammen arbeiten wir am Projekt Geen
nummers maar namen – Namen statt Nummern. Jos begleitet Schüler, die für
ihre Facharbeit und im Rahmen des Projektes Gedächtnisbuch Biographien über
Holländer schreiben, die im KZ Dachau waren. Diese Biographien sind die
Grundlage für eine Ausstellung im Amsterdamer Widerstandsmuseum, die Ende April
2015 eröffnet wird. In dieser Ausstellung möchte ich persönliche Objekte, Fotos
und Dokumente von holländischen politischen Häftlingen zeigen und ihre
Lebensgeschichte erzählen.
Sabine und Andreas
vertreten das Projekt Gedächtnisbuch.
Es ist schön, sie kennenzulernen. Auch die Mitarbeiter der Gedenkstätte treffe ich zum ersten Mal und das Treffen ist
auch gut und angenehm.
Sabine zeigt uns eine
Kopie. Es ist die Titelseite eines Buches Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke. Es steht ein
Stempel drauf: ‘Lager Bücherei’. Beim Antiquar Cornelius Wittmann in der
Altstadt hat Sabine dieses Buch in den Händen gehabt. Ist es wirklich ein Buch,
das in der Häftlingsbibliothek im KZ Dachau gewesen ist? Das wäre etwas Besonderes.
Ich erwäge, in der Ausstellung an Nico Rost zu erinnern. In seinem Buch Goethe in Dachau hat Rost eindrucksvoll über
seine Erfahrung im Lager geschrieben. Er schrieb auch über die Lagerbibliothek,
und erzählt, wie Freundschaft und Literatur ihm Unterstützung und Trost boten. Ein
Buch aus der Lagerbibliothek könnte seine Geschichte in der Ausstellung sehr
schön unterstützen.
Später am Tag überprüfen
wir, ob Rost auch etwas über Rilke geschrieben hat. Das hat er tatsächlich! Auf
Seite 241 lesen wir:
„25. Februar 1945
Rheinhardt ist heute
Nacht gestorben.
[…]
Als ich soeben das
Bändchen Rilke zur Hand nahm, das ich mir vor einigen Monaten von Rheinhardt
geborgt habe, stieß ich auf eine Zeile, die er mit Bleistift unterstrichen hat:
'Wir
sterben alle unseren eigenen Tod!'
Ob er bei diesen Worten
geahnt hat, dass er hier sterben würde? “
Zwei Tage später
notierte Nico Rost:
„27. Februar 1945
Um nicht dauernd nur an
die Toten und die Sterbenden denken zu müssen und um meine Gedanken zu etwas
anderem zu zwingen, habe ich einige Gedichte von Rilke aus seinen Duineser
Elegien und die Sonette an
Orpheus gelesen.“
(Aus: Nico Rost: Goethe
in Dachau. Ein Tagebuch, Übersetzung aus dem Niederländischen, München 2001.)
Rost hat also nicht nur
über Rilke geschrieben, sondern tatsächlich genau über dieses Buch, die Duineser Elegien! Ob das Buch, das
Antiquar Cornelius Wittmann im Besitz hat, vielleicht sogar dasselbe Exemplar
ist? Also das mit den von Rheinhardt mit Bleistift unterstrichenen Sätzen? Das
wäre großartig für die Ausstellung!
22. Oktober 2014
Albert Knoll, Archivar
in der Gedenkstätte schaut sich die Kopie der Titelseite an und bestätigt, dass
es sich um ein Buch aus der Lagerbücherei handelt.
Am Nachmittag gehen wir
erwartungsvoll zu Wittmann. Er holt einige Bücher hervor, alle aus der
Lagerbücherei. Ein braunes, in Leder
gebundenes Exemplar trägt den Titel Duineser
Elegien. Jos schlägt das Buch auf. Da ist der Stempel. Fieberhaft blättert
er hindurch, auf der Suche nach den Bleistiftstreifen von Rheinhardt. Aber
leider… wir finden diese nicht.
Wir verabschieden uns
mit vielen Fragen im Kopf. Woher hatte Rheinhardt sein Buch? Wie hat er es bei
sich halten können? Hat Rost es nach der Befreiung vielleicht mit nach Hause
genommen? Und wo könnte es sich dann jetzt befinden? Vielleicht in der
Universitätsbibliothek in Leiden, wo Rosts Literatur-Nachlass aufbewahrt wird.
Da muss ich schnell hin, sobald ich wieder zuhause bin!
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