Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Naor,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Naor,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
der Name des Konzentrationslagers Dachau steht auch
stellvertretend für den Völkermord an den Sinti und Roma. Es handelt sich um
ein Staatsverbrechen, das akribisch geplant und ins Werk gesetzt wurde. Der
nationalsozialistische Staat sprach den Angehörigen unserer Minderheit auf der
Grundlage einer menschenverachtenden Rassenideologie kollektiv und endgültig
das Existenzrecht ab, nur weil sie als Sinti oder Roma geboren worden waren.
Bereits die berüchtigten Nürnberger Gesetze wurden auf
direkte Anweisung von Reichsinnenminister Frick auf Sinti und Roma genauso
angewandt wie auf Juden. In der Folge wurden die Angehörigen unserer Minderheit
systematisch aus allen gesellschaftlichen Bereichen ausgegrenzt. Im Dezember
1938 forderte Himmler in einem Erlass die (Zitat) „endgültige Lösung der
Zigeunerfrage“. Mitte Mai 1940 begann die SS-Führung mit der Deportation ganzer
Familien ins besetzte Polen.
Höhepunkt der Vernichtungspolitik war die Deportation von
Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich und dem besetzten Europa nach
Auschwitz-Birkenau, auf der Grundlage eines Himmler-Befehls vom 16. Dezember
1942
Die Gaskammern von Auschwitz, in denen Tausende unserer
Menschen einen qualvollen Tod erleiden mussten, sind zum Symbol für ein
Verbrechen geworden, das in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist.
Das Netz der Konzentrationslager, der Erschießungsstätten
und der Massengräber mit den ermordeten Angehörigen unserer Minderheit zieht
sich über ganz Europa. Über 500.000 Sinti und Roma fielen der systematischen
Vernichtung zum Opfer.
Für diesen Zivilisationsbruch steht auch das ehemalige
Konzentrationslager Dachau. Der Ort, an dem wir heute stehen, ist für uns Sinti
und Roma zuallererst ein riesiger Friedhof.
Im Zuge der Massenverhaftungen im Juni 1938 trafen erstmals
Sinti und Roma in größerer Zahl im Lager ein, wo sie dem Terror der Bewacher
hilflos ausgesetzt waren. Zu den furchtbarsten Kapiteln der Leidensgeschichte
unserer Minderheit im KZ Dachau gehören die medizinischen Experimente, die an
Sinti- und Roma-Häftlingen durchgeführt wurden. Niemand kann die Qualen
ermessen, die sie dabei erleiden mussten.
Es waren die alliierten Soldaten, die dem beispiellosen
Morden des NS-Staates unter Einsatz ihres eigenen Lebens Einhalt geboten und
die Europa unter großen persönlichen Opfern vom Nationalsozialismus befreit
haben. Ihnen gilt unser besonderer Dank.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jede unserer Familien
war vom nationalsozialistischen Völkermord in existenzieller Weise betroffen.
Diese Erfahrung absoluter Rechtlosigkeit hat sich tief in unser kollektives
Gedächtnis eingebrannt und unsere Identität als Minderheit geprägt.
In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft hingegen wurde
der Völkermord an den Sinti und Roma verdrängt, verharmlost oder gar geleugnet.
Die Beamten aus dem SS- und Polizeiapparat, die den
Völkermord ins Werk gesetzt hatten, blieben weiterhin in Amt und Würden.
Beispielhaft für diese personelle und ideologische Kontinuität ist Josef
Eichberger. Er war im Dritten Reich in der Münchener „Zigeunerzentrale“ mit der
systematischen Erfassung der Sinti und Roma befasst.
Am 16. Mai 1938 befahl Himmler als „Reichsführer SS und Chef
der deutschen Polizei“ den Umzug der Münchner „Zigeunerzentrale“ – samt ihrer
Abertausenden Akten – ins Reichskriminalpolizeiamt nach Berlin. Dort wurde im
Oktober 1938 eine eigene „Reichszentrale“ eingerichtet, die die Verfolgung und
Deportation der Sinti und Roma fortan steuerte. Im Folgejahr wurde sie Teil des
neu gegründeten Reichssicherheitshauptamtes.
Josef Eichberger gehörte zu den so genannten
„Zigeunerspezialisten“, die 1938 von München nach Berlin gingen, um dort den
europaweiten Völkermord an den Sinti und Roma zu organisieren.
Nach dem Krieg wurde Eichberger zwar kurzfristig interniert,
gelangte aber schon 1949 wieder in den Staatsdienst. Später wurde er Leiter der
so genannten „Landfahrerzentrale“ beim Bayerischen Landeskriminalamt in
München, wo er unter Weiterverwendung der NS-Akten die rassistische
Sondererfassung von Sinti und Roma fortsetzte. Dabei scheute man nicht einmal
davor zurück, die in Auschwitz eintätowierten KZ-Nummern als Erkennungsmerkmale
zu registrieren.
Die bayerische „Landfahrerzentrale fungierte bald wieder als
bundesweite Nachrichtensammelstelle für Sinti und Roma. Ein
Ermittlungsverfahren gegen Eichberger und seinen früheren Vorgesetzten im
Reichsicherheitshauptamt, SS-Hauptsturmführer Wilhelm Supp, wegen ihrer
Verstrickung am Völkermord wurde 1963 eingestellt.
Um die rassenideologischen Motive der NS-Verfolgung zu
verschleiern, rechtfertigten die vormaligen Täter die Deportationen von Sinti
und Roma in die Vernichtungslager als angeblich „kriminalpräventiv“. Die
Kriminalisierung der Opfer war eine entscheidende Vorausaussetzung für die
Täter, sich selbst zu entlasten.
Die öffentliche Wahrnehmung unserer Menschen in der
Nachkriegszeit war weiterhin von den Zerrbildern der NS-Propaganda geprägt. So
heißt es in einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1956 zur
Entschädigung (ich zitiere): „Sie [die Zigeuner] neigen, wie die Erfahrung
zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen
ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung von fremdem Eigentum, weil ihnen
wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“
(Zitat Ende)
Damit übernahm der BGH die Rechtfertigungsstrategie der
Nationalsozialisten und deren demagogische Hetze. Versuchen Sie sich
vorzustellen, was es für einen traumatisierten Angehörigen unserer Minderheit,
der der Hölle der Konzentrationslager entronnen war, bedeuten musste, einer
solch infamen Diffamierung von höchstrichterlicher Stelle ausgesetzt zu sein.
Es ist eine wichtige symbolische Geste, dass sich die derzeitige
BGH-Präsidentin Bettina Limperg von diesem Urteil kürzlich in aller Klarheit
distanziert hat.
Es war die Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und
Roma, die sich den ehemaligen Tätern entgegengestellt und die personellen wie
ideologischen Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus öffentlich
angeprangert hat.
Eine entscheidende Zäsur war der Hungerstreik hier in der
Gedenkstätte Dachau an Ostern 1980, der in den internationalen Medien ein bis
dahin ungekanntes Echo fand.
Dass der Völkermord an unserer Minderheit einen eigenen
historischen Stellenwert hat, dass unseren Opfern eine eigene Erinnerung und
eine eigene Würde zukommt – dafür haben die deutschen Sinti und Roma lange
kämpfen müssen. Dass dieser jahrzehntelange Kampf nicht vergebens war, bezeugt
das nationale Denkmal für die ermordeten Angehörigen unserer Minderheit beim
Berliner Reichstag, das im Oktober 2012 im Beisein von Bundespräsident Gauck
und Bundeskanzlerin Merkel der Öffentlichkeit übergeben wurde.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, siebzig Jahre nach dem
Zusammenbruch der NS-Diktatur kann es ganz gewiss nicht darum gehen, den
Nachkommen der Täter irgendeine Form von Schuld aufzubürden. Der Sinn des
Erinnerns besteht vielmehr in der gelebten Verantwortung für die Gegenwart und
für unser Gemeinwesen.
Minderheiten wie Sinti und Roma, Juden oder Muslime müssen
wieder einmal als Sündenböcke für ökonomische Fehlentwicklungen und soziale
Verwerfungen herhalten. Rechte Parolen finden bis in die Mitte der Gesellschaft
Widerhall. Doch die angebliche Verteidigung des Abendlandes vor Entfremdung ist
in Wirklichkeit nichts anderes als eine Infragestellung dessen, was die offene
demokratische Gesellschaft im Innersten zusammenhält.
Als politischer Vertreter der deutschen Sinti und Roma
möchte ich ganz klar sagen: Rassismus und Populismus bedrohen nicht nur die
Rechte von Minderheiten, sondern zielen auf das Herz der Demokratie. Es geht
dabei immer um unsere demokratische Kultur und um die Grundlagen unseres
Zusammenlebens.
Wenn – wie kürzlich in Sachsen-Anhalt geschehen – ein
Bürgermeister aus Angst vor dem rechten Terror zurücktritt und ein Landrat
wegen Morddrohungen von der Polizei geschützt werden muss, wenn Rechtsextreme
ganze Landstriche zu Tabuzonen oder so genannten „No-go-Areas“ für Ausländer
erklären – dann ist unsere freiheitliche Demokratie in ihrer Substanz bedroht.
Dann sind wir alle gefordert, unsere Gesellschaft und die sie tragenden Werte
gegen rassistische Gewalt und Menschenverachtung zu verteidigen.
Jeder Brandanschlag auf ein Wohnheim für Asylsuchende und
jeder Angriff auf einen Menschen anderer Hautfarbe ist ein Angriff auf unseren
Rechtsstaat und das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Wir dürfen den
Rechtsradikalen nicht den öffentlichen Raum überlassen, da sonst die Demokratie
Schaden nimmt.
Rituelle Gesten der Betroffenheit reichen nicht aus.
Politik, Justiz und Gesellschaft stehen gleichermaßen in der Pflicht,
menschenfeindliches und antidemokratisches Handeln konsequent zu ächten. Doch
ebenso wichtig ist es, die sich vielerorts engagierenden Netzwerke gegen rechts
auch staatlicherseits zu unterstützen.
Die Errungenschaften der offenen Gesellschaft müssen wir
gemeinsam verteidigen, für diese Werte müssen wir die junge Generation immer
wieder neu gewinnen und begeistern.
In diesem Sinne begreife ich das Vermächtnis all derer, die
an diesem historischen Ort leiden und sterben mussten.
Ich danke Ihnen.
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